Empirische Studien zeigen, dass Delinquente sich von Nichtdelinquenten hinsichtlich zahlreicher psychologischer Variablen unterscheiden (Farrington, 1996; Lösel, 1999). Zahlreiche dieser Variablen können als Prädiktoren für eine spätere delinquente Entwicklung angesehen werden; sicher ist aber, dass nicht ein einzelner ungünstiger Einfluss (z.B. genetische und dispositionelle Faktoren oder mangelnde Schulbildung oder Delinquenz der Eltern oder früher Verlust wichtiger Bezugspersonen) für eine delinquente "Karriere" verantwortlich gemacht werden kann. Immer sind es komplexe Bündel von wechselseitig sich hemmenden und fördernden Einflüssen, welche die Wahrscheinlichkeit delinquenter Handlungsmuster erhöhen.
Neuere empirische Befunde erhärten die Hypothese, dass delinquente Jugendliche unter Defiziten in der "sozialen Informationsverarbeitung" leiden: Insbesondere aggressive Jugendliche sind selektiv aufmerksam für feindselige Anzeichen (z.B. in der Mimik anderer Menschen), sie besitzen eine vergleichsweise geringe Fähigkeit, Gefühlslagen und Motive anderer Personen zu erkennen, sie setzen sich vermehrt egozentrische, antisoziale Ziele (insbesondere im Einfluss entsprechend orientierter peer-groups), sie wählen häufiger körperlich aggressive Reaktionsmuster, schätzen die Folgen eigenen Handelns nicht langfristig ein und neigen dazu, Folgen aggressiven Handels positiver einzuschätzen als andere Jugendliche (Lösel und Bliesener, 2003)
Eine Trainingsmethode, welche dem Jugendlichen helfen soll, seine Bedürfnisse zukünftig sozial adäquat und ohne Delinquenz zur Geltung zu bringen, sollte daher auf die Entwicklung dieser sozial-kognitiven Kompetenzen zielen. Trotzdem wird jeder Versuch lückenhaft bleiben, und jede pädagogische Methode kann nur für ein begrenztes Klientel wirksam sein. Das sozialkognitive Training Denkzeit zielt also auf die Fortentwicklung einer Reihe (sozial)kognitiver Fähigkeiten, die von delinquenten Jugendlichen aufgrund ihrer restriktiven sozialen Erfahrung sehr häufig nur unzureichend entwickelt wurden: Fähigkeiten zur moralischen Urteilsbildung, Fähigkeit, sich in andere Menschen, z.B. in die Opfer ihrer Straftaten, hineinversetzen zu können, Fähigkeit, eigene Affekte zu identifizieren und differenziert wahrzunehmen, Fähigkeit, konflikthafte Situationen zu analysieren, unterschiedliche Handlungsalternativen zu antizipieren, ihre Folgen abzuschätzen und sich dann zu entscheiden.
Zahlreiche empirische Studien belegen (Blakeney & Blakeney, 1991; Chandler & Moran, 1990; de Mey, 1993; Nelson & Smith, 1990; Rest, 1979), dass Delinquente im Vergleich zu Nichtdelinquenten ein etwas geringeres Niveau moralischer Urteilsfähigkeit zeigen. Misst man ihre Fähigkeiten im Hinblick auf das Kohlbergsche Stufenmodell des moralischen Urteils (Kohlberg, 1996), so geben delinquente Jugendliche eher präkonventionale moralische Urteile ab (Stufe 1 und 2), verbunden mit relativ hohem sozialen Egozentrismus. Weil moralische Urteile auf dieser Stufe in der Regel mit einem geringeren Verständnis für soziale Regeln und einer nur eingeschränkten Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme verknüpft sind, ermöglicht die Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit - wie im Programm Denkzeit angezielt - eine stabilere und konsistentere moralische Orientierung (Jennings & Kohlberg, 1983; Fonagy, 1998).
Das Programm Denkzeit fördert insbesondere die Entwicklung "metakognitiver" Fähigkeiten. Damit ist die Fähigkeit "zur Wahrnehmung der inneren Befindlichkeit in einem selbst und in anderen Menschen" (Premack & Woodruff, 1978) gemeint. Ähnlich dem umgangssprachlichen Begriff der Selbstreflexion ermöglichen diese metakognitiven Fähigkeiten, die Einstellungen, Gefühle, Gedanken, Absichten oder Pläne anderer zu begreifen und auf sie zu reagieren. Hierin eingeschlossen ist die Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme, also die Fähigkeit, die Lage eines anderen mit seinen Augen und unter seinen Voraussetzungen zu betrachten. Wir nehmen an, dass gut entwickelte metakognitive Kompetenzen einer möglichen delinquenten Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen entgegenwirken.
Kinder oder Jugendliche, die nicht ausreichend Gelegenheit hatten, diese Fähigkeiten zu entwickeln, können das Verhalten anderer weniger gut auf deren gegenwärtige emotionale Situation beziehen, so dass sie z. B. eine ärgerliche oder mürrische Geste sehr rasch als Provokation erleben, obgleich sie vollständig aus der Situation des anderen, einer von ihm erlebten Beschämung oder Niederlage heraus erklärt werden könnte. Andersherum helfen metakognitive Fähigkeiten dem Kind und Jugendlichen, die Folgen eigenen Handelns und seine Wirkungen auf andere zu antizipieren - nicht nur in einem äußerlichen materiellen Sinne, sondern auch insofern, als sie sich vorstellen können, wie sich eine Beleidigung oder eine Drohung für den anderen "anfühlen" mag.
Zusätzlich zu den Entwicklungsrückständen bezüglich sozialer Perspektivenübernahme und Metakognition neigen delinquente Jugendliche stärker als andere dazu, in Konfrontationen impulsiv und aggressiv zu reagieren (Lösel & Bliesener, 2003), vor allem dann, wenn sie von vornherein dazu tendieren, anderen Menschen feindselige Absichten zu unterstellen und soziale Situationen dementsprechend misszuinterpretieren. Von einem psychoanalytischen Standpunkt aus betrachtet, handelt es sich hier um projektive Vorgänge: Innere, teilweise unbewusste Bilder von feindseligen Beziehungspersonen werden in der aktuellen Situation einer real anwesenden Person "angeheftet". Derartige projektive Erwartungen werden im Alltag allzu oft eingelöst und führen dann zu einer - situativ gar nicht angemessenen - "Reaktion".
Es kann nicht das Anliegen unseres sozialkognitiven Trainings sein, derartige projektive Neigungen im Kern zu verändern; dazu bedürfte es einer länger dauernden Psychotherapie. Wir können aber dem Jugendlichen helfen, seine Fähigkeit zur Realitätsprüfung fortzuentwickeln, so dass er etwa im Augenblick einer für ihn bedrängenden Situation innehält und überprüft, ob er jetzt gerade auf tatsächliches Verhalten oder nur auf eigene Mutmaßungen reagiert. Dieses kurze Innehalten bewahrt ihn davor, spontan und unüberlegt zu handeln. Diese Mahnung, sich auch in solchen Augenblicken Zeit zum Nachdenken zu nehmen, verleiht unserem Programm den Namen Denkzeit.
Das Denkzeit-Trainingsprogramm zielt also auf die Steigerung der sozialkognitiven und metakognitiven Fähigkeiten delinquenter Jugendlicher. Über diese spezifischen Ziele hinaus verfolgt das Programm weitere Ziele, die man "unspezifisch" nennen könnte, weil sie nicht unmittelbar als Lernziel operationalisiert und in der Arbeit mit dem Jugendlichen verfolgt werden. Zu diesen unspezifischen Zielen gehört, dass der Jugendliche während des Trainings Wissensdefizite ausgleicht und insbesondere solche sozialen Kontexte kennen lernt, die ihm bisher fremd waren. Z. B. soll er Gelegenheit haben, die beruflichen Kontexte kennen zu lernen, in denen ein/e Sozialarbeiter/in, ein/e Polizist/in, eine Warenhausdetektiv/in, ein/e Richter/in, eine Mitarbeiter/in der Jugendgerichtshilfe usw. denkt, fühlt und handelt. Einen solchen Kontext kennen zu lernen heißt, die Regeln zu verstehen, die bestimmen, wie eine soziale Situation zu interpretieren ist und welche Handlungsregeln hier und jetzt gelten. Erst wenn man den "Rahmen" (Goffman) einer Situation kennt, kann man das Handeln dessen, der in diesem Rahmen steht, wirklich verstehen.
Dieses unspezifische Lernziel "Kontext-Wissen Erwerben" liegt deswegen nahe, weil viele Jugendliche aufgrund restringierter sozialer Erfahrungen gehindert wurden, die überaus zahlreichen Kontexte sozialer Situationen einer modernen Gesellschaft kennen zu lernen. Denn selbst wenn sie - etwa im kognitiven Training - lernen und auch die Bereitschaft entwickeln, sich in andere hineinzuversetzen, werden sie fehlgehen, wenn ihnen verborgen bleibt, aus welchem Kontext heraus ihr Gegenüber Situationen interpretiert und handelt. Diese Defizite im Kontext-Wissen sind bislang nur wenig beachtet worden, und vielleicht scheitern auch wohlgemeinte Versuche, Einfühlungsvermögen zu trainieren, einfach an diesbezüglichen Defiziten.
Das Programm fördert den einzelnen Jugendlichen in der Entwicklung neuer Handlungsmöglichkeiten und Problemlösungsstrategien. Der Jugendliche wird regelmäßig aufgefordert, das in den Sitzungen Erarbeitete in seinem privaten Umfeld zu erproben und in der nächsten Sitzung darüber zu berichten. Im günstigen Falle erfährt er, dass seine neu gewonnenen Kompetenzen für ihn sehr nützlich sind, dass er soziale Konflikte nicht mehr nur mit dem "Tunnelblick" betrachten MUSS und sich selbst anders als bisher entscheiden kann. Wenn er dann in die nächste Stunde des Trainings zurückkehrt, kann er vielleicht darüber berichten, dass es ihm gelungen ist, eine Prügelei zu vermeiden, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren. Ein derartiger Erfolg stärkt sein Selbstbewusstsein und gibt ihm die Gewissheit, dass er einer sozialen Situation auch im Konfliktfall nicht hilflos ausgesetzt ist, sondern selbst Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten besitzt.
Zu den unspezifischen Zielen gehört ferner, dass der Jugendliche die Erfahrung einer tragfähigen, belastbaren und äußerst zuverlässigen (Arbeits-) Beziehung macht. Die Wirksamkeit dieser Erfahrung kann kaum überschätzt werden; aus der Psychotherapieforschung z.B. ist bekannt, dass ein großer Anteil am Erfolg einer Behandlung auf die Wirkung einer vertrauensvollen und belastbaren (therapeutischen) Beziehung zurückgeht.
Die beiden Beteiligten vereinbaren ein "Setting", legen Zeit und Ort ihrer gemeinsamen Arbeit fest, verabreden Regeln für den Fall ausgefallener Stunden usw. Diese Setting-Vereinbarungen sind nicht nur aus praktischen Gründen so wichtig, sie zeigen vielmehr, dass auch der Trainer sich verpflichtet fühlt, einen gemeinsamen Rahmen zu achten und sich an die Verabredungen zu halten.
Viele Jugendliche haben in ihrem bisherigen Leben die Erfahrung gemacht, dass Erwachsene willkürlich und egoistisch mit Vereinbarungen und Regeln des Miteinanders umgehen. Sie sind misstrauisch geworden und argwöhnen, dass der Vorschlag des/der Trainers/Trainerin, die vereinbarten Termine genau einzuhalten (und z.B. rechtzeitig abzusagen, wenn ein Termin ausfallen MUSS), vor allem dazu dient, ihn, den Jugendlichen, zu manipulieren und zu drangsalieren. Daher erlebt er derartige Vorschläge als willkürlich und neigt dazu, sich gegen sie zu Wehr zu setzen. Er wird aber erfahren, dass der/die Trainer/Trainerin den Rahmen der Situation nicht für sich beansprucht und sich auch nicht erlaubt, etwa die getroffenen Vereinbarungen nach eigenem Gutdünken zu verändern. Der Rahmen der Situation wird so zu etwas Drittem, Festem jenseits der gemeinsamen fließenden Arbeit. Der Rahmen gehört niemandem, er steht außerhalb und wird von beiden geachtet.
Schließlich kann der Jugendliche auch im Training selbst, also in seiner Beziehung zum/zur eigenen Trainer/Trainerin erproben, was das Manual ihm vorschlägt. Dazu ist es wichtig, dass sich der/die Trainer/Trainerin - im Kontrast etwa zu einer psychoanalytisch-therapeutischen Beziehung - auch persönlich mit seinen Haltungen und Auffassungen zu erkennen gibt. Der/die Trainer/Trainerin wird nicht versuchen, den Jugendlichen zur Übernahme seiner Wertvorstellungen zu bewegen, trotzdem aber soll er sich nicht neutral verhalten, sondern zeigen, dass er zu den wichtigen ethischen Fragen, die im Manual angesprochen werden, selbst auch eine reflektierte Einstellung gefunden hat. Der Jugendliche erfährt, dass sich der/die Trainer/Trainerin in ihn, den Jugendlichen, hineinversetzt und dass er/sie versucht, Situationen aus seiner (des Jugendlichen) Perspektive zu verstehen. Er erfährt aber auch, dass diese Perspektivenübernahme nicht bedeutet, unbedingt auch den eigenen Standpunkt ändern zu müssen. Und andersherum wird der Jugendliche erfahren, dass der/die Trainer/Trainerin in einigen wesentlichen ethischen Fragen anderer Auffassung ist - und es auch bleiben wird trotz aller drängenden Versuche, ihn/sie zur Änderung seiner/ihrer Auffassungen zu bewegen.
Diese gemeinsame Arbeit wirft selbstverständlich Konflikte auf, und es ist durchaus anregend, wenn in der Beziehung der beiden Beteiligten auch konflikthafte emotionale Zustände passieren. Dadurch lernt der Jugendliche, dass man sich über den anderen ärgern kann, ohne die Beziehung abbrechen zu müssen und dass man andersherum den anderen sehr gern mögen kann, ohne die Distanz zu ihm überspringen zu müssen.
Aus all diesen Gründen ist es sehr wichtig, dass die Trainer/innen das sozialkognitive Programm Denkzeit in einem eigenen Training erlernen - nicht nur in dem Sinne, dass sie die Übungen des Manuals beherrschen, sondern auch in dem Sinne, dass sie lernen, ein tragfähiges, freundliches und belastbares Arbeitsbündnis einzugehen.