Alle Manuale haben die gleiche Modulstruktur: auf einen kognitiven Teil, in dem es vor allem um eine angemessene Problembewältigung geht, folgt ein Teil, der den Umgang mit Gefühlen (vor allem mit Aggressionen) fokussiert und der in das dritte Modul mündet, in dem die moralische Bewertung im Vordergrund steht.
In den Übungen des ersten Moduls lernt der Klient, konflikthafte soziale Situationen zu erkennen und zu durchdenken. Analog des Schemas von Crick und Dodge der sozialen Informationsverarbeitung (1994) wurde ein sogenannter „Problemlöseprozess“ entwickelt (z. B. Körner und Friedmann 2008). Dieses Schema stellt die nicht bewussten Prozesse dar, die in sozialen Situationen innerhalb kürzester Zeit ablaufen, um sich zu orientieren und sich entsprechend verhalten zu können. Da bekannt ist, dass Menschen, die zu dissozialem Verhalten neigen, an jeder einzelnen Stufe dieses Prozesses besondere Einschränkungen haben (z. B. Dodge et al. 2003), wird im ersten Modul des Denkzeit-Trainings auf jede einzelne Stufe Bezug genommen. Das ist durchaus eine Besonderheit der Denkzeit-Programme. Die meisten Programme für jugendliche Straftäter zielen vor allem auf das Generieren von alternativen Reaktionsmöglichkeiten und eine sozial bezogene Handlungsauswahl, beziehen aber die selektive Wahrnehmung und die Neigung zu feindseliger Interpretation der Situation nicht mit ein. Für einige Täter mag dieser Ansatz genügen, bei denjenigen, die aufgrund einer Fehlattribuierung (oder negativen Projektion) gewalttätig werden, greift er jedoch zu kurz. Die meisten der jungen Menschen, die sich persistierend dissozial verhalten, neigen zu solchen negativen Projektionen, die sie zu aggressiven Übergriffen veranlassen. Meist als Folge von beschädigenden frühen Beziehungserfahrungen (dazu ausführlich z. B. bei Streeck-Fischer 2004), neigen diese Menschen dazu, eigene unerträgliche innere Dialoge („ich bin nur Dreck“) zu externalisieren und im Gegenüber wiederzuerkennen („der guckt schon so, der denkt, ich bin nur Dreck“).
Ziel dieses Moduls ist es, solche feindseligen Zuschreibungen bewusst werden zu lassen oder den Klienten mindestens in seiner Gewissheit zu verunsichern, dass sein Gegenüber böswillige Absichten verfolgt. Das passiert explizit durch die vorgegebenen Übungen im Manual und implizit durch die pädagogische Beziehung, in der der Trainer/die Trainerin sich in die jeweilige interpersonelle Situation einfühlt und zu erkennen gibt, wie er/sie sich fühlen würde, welche Interpretationen er/sie vornähme und welche Handlungsalternativen er/sie gegeneinander abwägen würde (s. u.). Der Klient muss sich mit seinem/seiner Trainer/Trainerin befassen. Das ist durchaus als „Konfrontation“ gemeint, die allerdings ohne Aggressivität oder gar Beschämung auskommt. Es handelt sich mehr um eine erste Verunsicherung über die Allgemeingültigkeit eigener Wahrnehmungen und Bewertungen.
In allen Sitzungen des ersten Moduls wird über die Beziehung und in den Übungen
die Fähigkeit angeregt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und zu verstehen,
dass andere Menschen ggf. andere Absichten, Einstellungen und Handlungsgründe haben
als man selbst. Diese Fähigkeit haben durchaus nicht alle Klienten entwickeln können. Ist diese Fähigkeit nicht hinreichend ausgebildet, kann der Klient vielleicht einüben, sozial erwünscht zu reden, aber dass er lernt, sich einem anderen Menschen empathisch zuzuwenden, ist nicht zu erwarten.
Dem Denkzeit-Ansatz liegt ein psychodynamisches Verständnis zugrunde; die Suspendierung der Fähigkeit sich einzufühlen wird als eine (zunächst sinnvolle) Anpassungsreaktion auf beschädigende Beziehungserfahrungen verstanden, die über Jahre als Schutzmechanismus aufrechterhalten wird. Das „Elend, das diese Jugendlichen schon angerichtet haben, in deren Köpfe ‚einzumassieren‘“, wie Weidner (z. B. 2004) vorschlägt, würde im Denkzeit-Training keinen Platz finden. Der delinquente Jugendliche soll sein Gegenüber respektieren lernen und dafür wiederum ist es oft nötig, überhaupt erst die Fähigkeit zur Identifikation zu stiften, indem eine förderliche, beschämungsfreie, haltgebende und klar abgegrenzte Beziehung angeboten wird (s. u.).
Viele der Klienten, die zu Denkzeit kommen, fallen durch Impulskontrollstörungen, Affektdurchbrüche und mangelnde Frustrationstoleranz auf. Sie handeln vor allem reaktiv oder intrinsisch motiviert (vgl. Friedmann 2012). Bei ihnen handelt es sich um eine hoch belastete Gruppe von Gewalttätern, die allein durch strafende Sanktionen nicht erreichbar ist. Diese Täter und Täterinnen vermitteln nicht selten glaubhaft, dass sie keine weiteren Gewalttaten mehr begehen wollen und ihre Schuld durchaus anerkennen. Dennoch geraten sie in der Lebenspraxis häufig in konflikthafte Situationen, die zu aggressiven Auseinandersetzungen führen, denen sie sich hilflos ausgeliefert fühlen.
Die hier vorzufindende, häufig früh einsetzende und lang anhaltende Delinquenzneigung gründet zumeist in traumatisierenden Erfahrungen der frühen Lebensjahre (Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch). Wichtige Funktionen der Selbst- und Beziehungsregulierung konnten sich aufgrund der schädigenden Beziehungserfahrungen nicht angemessen entwickeln. Intensive soziale Beziehungen werden deshalb entweder vermieden, bereits bei geringen Belastungen abgebrochen oder so gestaltet, dass ein förderlicher Verlauf unmöglich wird. Oft erweisen sich diese Menschen als überaus misstrauisch und in sich zurückgezogen. Andere verhalten sich offen aggressiv, treten provokant auf und lösen immer wieder negative Reaktionen bei ihrem Gegenüber aus.Im zweiten Modul des Denkzeit-Trainings sollen die Klienten lernen, ihre Gefühle besser wahrzunehmen, die aufkeimende Aggression zu identifizieren, Körpersignale zuzuordnen und die Stärke der Wut zu differenzieren, um individuelle Strategien zu entwickeln, die in den verschiedenen Situationen in ihrem Lebensalltag anwendbar sind.
Ein reines Verhaltenstraining griffe hier zu kurz, denn theoretisch wissen fast alle Jugendliche, dass sie weg gehen, lieber reden als schlagen sollten, den Aggressor ignorieren könnten etc. – in der sicheren Situation eines pädagogischen Trainings können sie das auch. Wenn es aber um „echte“ Situationen geht, hilft das nicht weiter (eben auch wegen der Projektionen, wie oben beschrieben).
Im dritten Modul setzen sich die Klienten mit der Frage von „Richtig und Falsch“ auseinander. Allerdings nicht, indem sie von den Pädagoginnen und Pädagogen Richtlinien bekommen, sondern es geht vielmehr um die Auseinandersetzung mit moralischen Maßstäben und die Entwicklung einer Strategie des „darüber Nachdenkens“.
Es wird im Training häufig mit Dilemmata gearbeitet, die den Klienten anregen sollen, den „moralischen Gehalt“ von sozialen Situationen sensibel wahrzunehmen. In der Bearbeitung dieser Dilemmata kommt es nicht darauf an, dass der Jugendliche herausfindet, welche Lösung dem Pädagogen/der Pädagogin gefällt und die vermeintlich „hochwertigste“ Lösung wählt, sondern dass er in sozial bezogener Weise Handlungsalternativen durchdenkt, um sich begründet zu entscheiden. Ziel ist es, zu einer autonomen Moralvorstellung zu gelangen, die im Jugendlichen selbst fest verankert ist und die kontextuell angepasst werden kann, aber nicht bestechlich ist, so dass moralische Regeln einfach „über Bord geworfen“ werden können, wenn es zum eigenen Nutzen ist.
Der Trainer/die Trainerin legt seine/ihre Einstellungen und Haltungen ebenfalls offen und gleichsam zwischen sich und den Klienten, so dass beide gemeinsam ihre Einstellungen, Bewertungen und Haltungen vergleichen können. Es geht dabei vor allem darum, Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten deutlich zu machen und nicht, den Klienten zu überzeugen oder gar zu sozialer Anpassung zu dressieren (die in realen konflikthaften Situationen ohnehin wirkungslos bliebe).