Das Blickwechsel-Training: Grundlagen und Methode

Entwicklung und theoretische Grundlagen

In unserer langjährigen Arbeit mit delinquenten jungen Menschen wurden wir immer auch mit Klientinnen und Klienten konfrontiert, die Radikalisierungstendenzen zeigten oder sich radikalen Gruppen angeschlossen hatten (die meisten aus der rechtsextremen Szene). Seit 2014 treffen wir außerdem zunehmend auf junge Menschen sich zu religiös-begründet radikalen Gruppen hingezogen fühlen und teilweise darin aufgehen. Fast alle hatten nur rudimentäres Wissen über die politischen, geschichtlichen oder die religiösen Hintergründe, die sie so engagiert vertraten.

 

Es wurde immer deutlicher, dass die Radikalisierung dieser jungen Menschen überwiegend die Kompensation eines innerpsychischen, bzw. interpersonellen Defizits war und dass die Religion oder Ideologie dahinter eine untergeordnete Rolle spielte. Deshalb führte der Anschluss an solche Gruppen auch schnell zu einer Entlastung innerer Spannungszustände und wurde als sehr wohltuend erlebt.  

 

Mit dem Anschluss an radikale Gruppen wurde oft eine (unbewusste) Angst vor Ausgrenzung, Erniedrigung und/oder Wertlosigkeit kompensiert, denn die Zugehörigkeit bietet in besonderem Maße Halt, Geborgenheit, vermittelt Sinn, zeigt eindeutige Wege auf und stärkt das Selbstwertgefühl.

 

Kommen spezifische Einschränkungen der Selbst- und Beziehungsregulationsfunktionen zusammen (z. B. Spaltungstendenzen, Neigung zu Projektion, mangelndes Selbstwertgefühl, defizitäre Gewissensbildung, mangelnde Affektkontrolle und -wahrnehmung, mangelnde Antizipationsfähigkeit), ist die entsprechende Person für den Anschluss an eine radikale Gruppe geradezu prädestiniert (vgl. Friedmann & Plha 2017). Je nach Ausprägung und abhängig von Gelegenheitsstrukturen wird sie entweder nur radikalere Einstellungen zu einzelnen Lebensbereichen oder Situationen entwickeln oder sich tatsächlich einer entsprechenden Gruppe anschließen. Wir haben nicht selten erlebt, dass die jungen Menschen in der Phase der Hinwendung geradezu aufblühen, weniger Straftaten begehen, sich besser fühlen und von der (zunächst) großen Anerkennung durch die neuen Freunde profitieren. Viele radikale Gruppen haben perfide Strategien entwickelt, um verunsicherte junge Menschen an sich zu binden. 

 

Bisher haben wir mit diesen Personen mit unserer Methode Denkzeit-interaktionell gearbeitet. In diesem Training wird eine pädagogische Interaktionsdiagnostik der Selbst- und Beziehungsregulationsfunktionen angewendet und daraufhin gezielt auf eine Fortentwicklung der relevantesten Entwicklungsverzögerungen eingewirkt. Da Radikalisierung aus unserer Sicht als Folge dieser Einschränkungen zu verstehen ist, erklärt sich der große Erfolg, den wir damit verzeichnen konnten. Durch eine gezielte Nachentwicklung bestimmter (individuell unterschiedlicher) psychosozialer Kompetenzen konnten wir eine Loslösung von den radikalen Gruppen unterstützen.

 

Obwohl dieses Training grundsätzlich geeignet erschien, mussten die Denkzeit-Trainer(innen) ihr Vorgehen immer wieder auf diese speziellen jungen Menschen anpassen, flexibel auf die sich radikalisierenden Klient(inn)en eingehen und neue Themen besprechen, die für diese Klient(inn)en relevant sind. Die Delinquenz trat dabei häufig in den Hintergrund. Um den Erfahrungen und den Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen zu entsprechen, haben wir daraufhin ein neues Programm entwickelt, das nun sehr gezielt für gefährdete Klient(inn)en eingesetzt werden kann.

  

Die spezifischen Entwicklungsdefizite, aufgrund derer die jungen Menschen für radikale Strukturen empfänglich sind, müssen erkannt werden, um eine gezielte Nachreifung zu fördern. Nur so können wir sie unterstützen, sich nachhaltig aus diesen Strukturen zu lösen und ihnen eine aussichtsreiche Zukunftsperspektive bieten.

 

Im Blickwechsel-Training stehen innere Prozesse im Fokus und nicht die Auseinandersetzung mit Religion und/oder Ideologie.

 

Setting

„Blickwechsel“ ist ein Einzelprogramm mit speziell angepasster pädagogischer Interaktionsdiagnostik, das über einen Zeitraum von 6-9 Monaten durchgeführt wird.

 

In den ersten 3-5 (probatorischen) Sitzungen wird entschieden, ob der/die Klient(in) von dieser Form des Trainings profitieren kann.

 

Regelhaft werden 40 Sitzungen durchgeführt, allerdings kann die Laufzeit je nach Bedarf variieren. Üblicherweise werden 2 Sitzungen à 45 Minuten pro Woche angeboten. Auch hier wird das Setting auf den/die Klient(in) abgestimmt. Die Familien und andere pädagogische Fachkräfte im Umfeld des jungen Menschen werden im notwendigen Umfang miteinbezogen, um das Training zu stützen.

 

Unsere Blickwechsel-Trainer(innen) greifen auf langjährige Erfahrungen in der Arbeit mit delinquenten und devianten Jugendlichen zurück, haben die Denkzeit-Trainer(innen)-Weiterbildung und die Zusatzausbildung Denkzeit-interaktionell erfolgreich absolviert und die Anwendung des Blickwechsel-Trainings erlernt.

 

Blickwechsel-Manual

Es liegt ein zielgruppenspezifisches Manual für die Arbeit mit radikalisierten oder sich radikalisierenden jungen Menschen vor, in das relevante Themen eingearbeitet sind (z. B. Identität, Gruppenprozesse, Sinnsuche, Ideal, Ehre, Rollenverständnis). Im Gegensatz zu anderen Denkzeit-Programmen steht die Delinquenz hier nicht im Fokus, denn gerade nach dem Anschluss an eine radikale Gruppe lässt sich häufig beobachten, dass sich die Klient(inn)en vermeintlich gut in die Gesellschaft einzufügen vorgeben und es zunächst zu einer Entlastung der (pädagogischen) Fachkräfte und der Familien kommt.

 

In das Manual sind relevante Teile der eigens überarbeiteten pädagogischen Interaktionsdiagnostik eingebunden, die die gezielte Arbeit an eingeschränkten Funktionen der Selbst- und Beziehungsregulierung zulässt. Eingesetzt wird dabei eine Interaktionsmethode, die bereits geprüft und mehrfach als wirksam in Bezug auf die Nachreifung wesentlicher psychosozialer Kompetenzen auch bei sehr schwer gestörten (und der Therapie kaum zugänglichen) Patient(inn)en evaluiert wurde (vgl. Salzer et al. 2014, Leichsenring et al. 2016).

 

Zuweisungen

Das Training wird ambulant, aber auch stationär angeboten. Zuweisungen sind durch alle Öffentlichen und Privaten Träger der Jugendhilfe und durch Mitarbeiter(innen) der Jugendstrafrechtspflege möglich.

 

Berlin und bundesweite Projekte

 

Just X Berlin - Prävention und Deradikalisierung im Berliner Justizvollzug und in der Bewährungshilfe im Verbund mit dem der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung und dem Violence Prevention Network (seit August 2018)

 

Blickwechsel-Trainings in Niedersachsen von Januar 2019 bis Oktober 2020 in Kooperation mit einem ansässigen Freien Träger (Kooperation beendet im Oktober 2020), seit 2021 Fortsetzung des Projekts unter vollständiger Leitung der Denkzeit-Gesellschaft in Berlin, finanziert vom Landespräventionsrat Niedersachsen und extern evaluiert durch ProVal GbR

 

Blickwechsel-Trainings in den Justizvollzugsanstalten Hessen in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Ministerium der Jusitz (Projektbeginn 2021)

 

Blickwechsel-Training im Rahmen des Berliner Landesprogramms Radikalisierunsprävention der Landeskommission Berlin gegen Gewalt (April 2017 bis Dezember 2020)

 

Literatur

 Friedmann, R. & Plha, W. (2017): Auf der Suche nach Orientierung. Risikofaktoren für Radikalisierung aus psychodynamisch-pädagogischer Perspektive. In: B. Traxl (Hrsg.): Aggression, Gewalt und Radikalisierung. Frankfurt a. M.: Brandes & Aspel,  219-243. 

 

Leichsenring, F,  Masuhr, O,  Jaeger, U, Rabung, S,  Dally, A, Dümpelmann, M, Fricke-Neef, C, Steinert, C,  Streeck, U (2016): Psychoanalytic-interactional therapy versus psychodynamic therapy by experts for personality disorders:  A randomized controlled efficacy-effectiveness study in Cluster B personality disorders. Psychotherapy and Psychosomatics, 85, 71-80

 

Friedmann, R. (2015): Praxisrelevante Differenzierung der Handlungsmotive von Gewalttätern, Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin. Verfügbar unter https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/17949

 

Salzer S, Cropp C, Jaeger U, Masuhr O, Streeck-Fischer A. (2013): Psychodynamic therapy for adolescents suffering from comorbid disorders of conduct and emotions in an inpatient setting: a randomized controlled trial. Psychological Medicine, FirstView Article November 2013, 1-10

 

Streeck, U. (2012): Braucht soziale Arbeit mit dissozialen Jugendlichen psychotherapeutisches Wissen? Zeitschrift für Jugendkriminalität und Jugendhilfe, 1, 57-59.

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