Laufzeit: 2011 - 2012
Ziel: Entwicklung einer psychoanalytisch-interaktionellen Methode für die Arbeit mit delinquenten Jugendlichen, die besondere Schwierigkeiten in ihren interpersonellen Beziehungen haben.
Förderer: Heigl-Stiftung, International Psychoanalytic University
Projektbeschreibung:
Ausgangslage
Das 2003 in Berlin implementierte Denkzeit-Training hat sich für straffällige Jugendliche nach dem Jugendgerichtsgesetz etabliert und bewährt; es können gute Ergebnisse hinsichtlich der Rückfallquote erzielt werden . Es zeigte sich, dass der überwiegende Teil der zugewiesenen Jugendlichen vom Denkzeit-Training, in der vorliegenden Form, profitieren können.
Allerdings gab es immer wieder Jugendliche, denen es schwerfiel eine tragfähige und vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zu einem professionellen Helfer einzugehen. Sie zeigen sich emotional unerreichbar, passen sich vielleicht vordergründig an und verhalten sich, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, auf eine Art und Weise, die jede verlässliche Beziehung schon im Ansatz wieder zerstört.
Auch im sozialen Alltag können diese Jugendlichen nicht angemessen handeln. Sie sind zumeist sehr misstrauisch und kränkbar, sind nicht in der Lage oder nicht bereit, sich in die Lage ihres Gegenüber zu versetzen, reagieren impulsiv und ungesteuert auf geringfügige Versagungen, können Spannungs- und Unlustzustände nur schwer aushalten und haben oft nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, mit affektbestimmten Zuständen umzugehen und von Affekten begleitetes Verhalten zu steuern. In konflikthaften und spannungsreichen Situationen greifen sie auf dysfunktionale und dissoziale „Problemlösungsstrategien" zurück, die häufig von Impuls- und Affektdurchbrüchen bestimmt sind und in dissozialem Verhalten münden.
Jugendliche mit dermaßen gravierenden interpersonellen Schwierigkeiten haben in aller Regel schon als kleine Kinder negative Beziehungserfahrungen machen müssen, indem die frühen Beziehungen oft von Vernachlässigung, Gewalt, ausbeuterischen Verhältnissen und Missbrauch bestimmt waren. Als Folge solcher Erfahrungen sind die Bindungsmuster dieser Jugendlichen hoch ambivalent oder desorganisiert; die Erfahrung verlässlicher zwischenmenschlicher Beziehungen fehlt ihnen, und in den gegenwärtigen zwischenmenschlichen Kontakten verhalten sie sich entsprechend den Erfahrungen, die sie in ihren früheren Beziehungen gemacht haben.
Es zeigte sich in den letzten Jahren, dass solche schwer belasteten Jugendliche mit dem herkömmlichen Denkzeit-Training nicht zu erreichen waren. In Rücksprache mit der Denkzeit-Gesellschaft, der JGH und der BHW modifizierten die Pädagogen ihr Vorgehen, um dem individuellen Hilfebedarf dieser Jugendlichen angemessen begegnen zu können. Ein Training sozialkognitiver Kompetenzen genügte nicht, um sie im Abbruch ihrer delinquenten Karriere zu unterstützen. Dazu musste der Fokus auf die Beziehungsstörungen gelenkt werden, die sich immer auch zwischen dem Trainer und seinem Klienten zeigte und damit der Bearbeitung zugänglich wurde. Außerdem mussten die Inhalte des Manuals flexibel an die Ressourcen des Jugendlichen angepasst werden.
Es entstand der Eindruck, dass die Methode grundlegend überarbeitet werden müsste, um diese schwer beeinträchtigten Jugendlichen pädagogisch zu erreichen.
Bedarf
Etwa 30% der Jugendlichen, die Denkzeit zugewiesen werden, zeigen die oben beschriebenen Auffälligkeiten. Sie haben lange Jugendhilfekarrieren hinter sich, die von Misserfolgen geprägt sind (und erhebliche Kosten verursachen). Bisher gibt es in Berlin kein pädagogisches Programm, bei dem die erheblichen Beziehungsstörungen der jungen Menschen im pädagogischen Fokus stehen. Von herkömmlichen pädagogischen Maßnahmen können sie jedoch nicht oder nur sehr wenig profitieren.
In Gesprächen mit der Bewährungshilfe und mit den JGHs wurde wiederholt an die Denkzeit-Gesellschaft die Bitte herangetragen, eine Methode anzubieten, die bei den oben beschriebenen Jugendlichen erfolgversprechend(er) sein kann.
Auch wenn diese Jugendlichen schwer belastet sind, lehnen sie eine als Behandlung von Krankheit deklarierte Maßnahmen -wie beispielsweise Psychotherapie- vehement ab, weil sie psychotherapeutischer Unterstützung gegenüber nicht nur in der bei Jugendlichen üblichen Weise kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, sich selbst auch nicht annähernd als krank und behandlungsbedürftig erkennen können und allen therapeutisch ausgerichteten Maßnahmen mit äußerstem Misstrauen begegnen. Entsprechend stehen ihnen therapeutische Hilfen in der Regel nicht offen (Gahleitner 2008, Krenz 2008).
Ohne den Zwangskontext einer richterlichen Weisung sind diese Jugendlichen nicht zu erreichen. Erfahrungsgemäß sind sie frühestens nach 10 -15 Sitzungen in der Lage, sich vorsichtig auf eine für sie bedeutsame, wenn auch fragile Beziehung einzulassen.
Vorhaben
Die Denkzeit-Gesellschaft hat sich aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahren und der wiederholten Bitte von JGH und BWH entschlossen, ihr sozialkognitives Einzeltraining "Denkzeit" für diese straffälligen Jugendlichen, bei denen erhebliche Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen zu den bereits bekannten Beeinträchtigungen hinzukommen, deutlich zu modifizieren, so dass zwei verschiede Methoden angeboten werden können: Das bewährte Denkzeit-Training und Denkzeit-Interaktionell.
Die Kenntnisse von und Erfahrungen mit den Folgen psychosozialer Funktionseinschrän-kungen wurden primär zwar in langjährigen klinischen Kontexten gewonnen, haben sich darüber hinaus aber auch für andere Anwendungsfelder als aufschlussreich, nützlich und für das praktische Handeln als hilfreich erwiesen. „Denkzeit-lnteraktionell“ ergänzt und erweitert das kognitive Training um ein Verständnis für Einschränkungen psychosozialer Funktionen, die für ausreichend kontrolliertes Verhalten in sozialen Beziehungen und die Interaktion mit anderen erforderlich sind. Dabei wird u.a. die Beziehung der Jugendlichen zu einem Denkzeit-Trainer ein zentrales Medium sein, um ihre interaktionellen Kompetenzen behutsam nach-zuentwickeln und auszubauen.
Die neue Methode (Denkzeit-Interaktionell) kombiniert Elemente der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie, die von der Arbeitsgruppe um Prof. Streeck (Göttingen) weiterentwickelt wurde (z. B. Streeck 2007) und das bewährte Denkzeit-Training (z. B. Körner und Friedmann 2005). In Kooperation mit den Psychoanalytikern Prof. Streeck und Dr. Falck ist so eine neue pädagogische Methode für Jugendliche mit erheblichen interpersonellen und Interaktionsstörungen entstanden.
Vorarbeiten
Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie ist eine entwicklungsorientierte Methode auf der Grundlage eines modernen psychoanalytischen Verständnisses. Die Methode wurde für Personen entwickelt, die - den hier im Mittelpunkt stehenden Jugendlichen mit ihren Folgebeeinträchtigungen problematischer Sozialisationsbedingungen durchaus vergleichbar - aufgrund schwieriger und häufig depravierender Entwicklungsbedingungen über basale psychosoziale Funktionen nur eingeschränkt verfügen (sog. strukturelle Störungen, schwere Persönlichkeitsstörungen). Bei der psychoanalytisch- interaktionellen Methode steht das Bemühen um Nachentwicklung dieser Funktionen im Vordergrund; die in der Psychoanalyse übliche Bearbeitung dieser Einschränkungen unter Rückgriff auf die Vergangenheit und Wiedergewinnung von Erinnerungen an zurückliegende Beziehungserfahrungen ist bei diesen Klienten weder hilfreich noch nützlich (Streeck 1998). Sowohl in dieser Einstellung wie in der daraus abgeleiteten Praxis ist die interaktionelle Methode dem pädagogischen Denkzeit-Training durchaus verwandt: Die Haltung des Trainers gegenüber dem Klienten, der für die gemeinsame Arbeit erforderliche Rahmen und viele der Interventionsstrategien sind einander ähnlich. Im Lauf des fachlichen Austausches zwischen interaktionell arbeitenden Therapeuten und der Denkzeit-Gesellschaft wurde sehr deutlich, dass eine Kooperation von großem Gewinn sein kann.
2009 hat die Denkzeit-Gesellschaft damit begonnen, die neue Methode „Denkzeit- Interaktionell" zu konzeptualisieren und geeignete, erfahrene Denkzeit-Trainer darin ausbilden zu lassen. Inzwischen ist aus dieser Zusammenarbeit ein anwendungsfähiges pädagogisches Konzept entstanden. Die Kosten der Konzept enwicklung und der Weiterbildung wurden anteilig von den Teilnehmern und der Denkzeit-Gesellschaft getragen. Insgesamt wurden bisher ca. 10.000 Euro dafür aufgebracht.
Zielgruppe
Zielgruppe der neuen Methode sind straffällige Jugendliche mit richterlicher Weisung nach § 10 JGG, die erhebliche Einschränkungen in ihren interpersonellen Beziehungen und ihrer Beziehungsfähigkeit zeigen (siehe oben). In der Regel wird es sich um Adoleszente mit frühen schädigenden Beziehungserfahrungen handeln, die nicht ausreichend in der Lage sind, Funktionen der Selbst- und Beziehungsregulierung angemessen zu aktivieren und einzusetzen.
Ziele
Denkzeit-Interaktionell zielt, ebenso wie das ursprüngliche Denkzeit-Training, auf die Delinquenzreduktion und die Entwicklung sozialkognitiver Kompetenzen. Der Fokus liegt darüber hinaus auf der Stärkung psychosozialer Funktionen, die für die Selbst- und Be-ziehungsregulierung und damit für ausreichend kontrolliertes Verhalten im sozialen Alltag notwendig sind. Ziel ist, dass die Klienten Fähigkeiten entwickeln, um auch in interpersonell konflikthaften Situationen ausreichend gesteuert und angemessen reagieren zu können.
Methode
Die ersten 20 Sitzungen des Trainings sind weiterhin manualisiert. Das herkömmliche Manual wurde jedoch überarbeitet. Die Trainer entscheiden anhand von definierten (diagnostischen) Kriterien, ob sie nur die obligatorischen Übungen durchführen oder die Inhalte mit optionalen Übungen zur Arbeit an der interpersonellen und Interaktionskompetenz vertiefen. Jede Sitzung wird nach Beendigung mit Hilfe eines dafür entwickelten Diagnostikbogens zu den psychosozialen Funktionseinschränkungen (Streeck) ausgewertet.
Die ersten 20 Sitzungen dienen in erster Linie zwar dem Training sozialkognitiver Kompetenzen. Zugleich werden die Erfahrungen aus diesen Sitzungen aber genutzt, um die Einschränkungen der psychosozialen Funktionen der Klienten entsprechend den vordefinierten Gesichtspunkten zu beurteilen. In den sich daran anschließenden 20 Sitzungen wird dann gezielt an den interaktionellen und interpersonellen Einschränkungen des Klienten gearbeitet ("tailored intervention").
Weil die Jugendlichen gewöhnlich über ihre vernachlässigenden und oft traumatisierenden Beziehungserfahrungen nicht sprechen können, so dass sich diese Erfahrun¬gen nur in ihrem Verhalten im Umgang mit anderen zeigen, ist zu erwarten, dass sich die interpersonellen Probleme der Klienten auch im Verhältnis zu dem Denkzeit-Trainer abbilden. Das bietet den großen Vorteil, dass sie damit potenziell der Bearbeitung zugänglich werden. Das verlangt allerdings auch besondere Kompetenzen der Trainer. Der Trainer muss dazu in der Lage sein, sich dem Jugendlichen als Gegenüber anzubieten und sich selbst einschließlich seiner eigenen Gefühle, soweit sie sich auf das Verhalten der Jugendlichen richten, selektiv-authentisch erkennen zu lassen, wenn das für den Klienten hilfreich sein kann, um seine psychosozialen Steuerungsmöglichkeiten und Funktionen zu verbessern. Dabei können sich die Interventionsstrategien an die psychoanalytisch-interaktionelle Methode anlehnen (Streeck und Leichsenring 2009).
Das stabile, Halt gebende Arbeitsbündnis und der klare Rahmen des herkömmlichen Denkzeit-Trainings sind auch für Denkzeit-Interaktionell von großer Bedeutung. Klare Absprachen und sichere Vereinbarungen sind auch hier Grundlage der gemeinsamen Arbeiten.
Besonderheiten und Qualitätssicherung
• Wissenschaftlich fundiertes pädagogisches Training auf der Basis einer bewährten und in grundlegenden Aspekten mit dem Denkzeit-Trainung verwandten therapeutischen Methode, die für eine spezifische Klientel entwickelt wurde
• Konzeptentwicklung in Kooperation mit analytischen Psychotherapeuten (Ausbilder der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie)
• Begleitung durch diese Arbeitsgruppe (s.o)
• Es wird für die pädagogische Diagnostik ein klinisches Verständnis mit päda¬go¬gischen Interventionsstrategien angestrebt
• Stabile Arbeitsbeziehung (klar abgegrenzte, zugewandte, reflektierte Haltung der Pädagogen) mit sicherem, transparentem Rahmen
• Nur geeignete und erfahrene Denkzeit-Trainer und -Trainerinnen werden in der interaktionellen Methode weitergebildet, nur geeignete Teilnehmer dürfen Denkzeit-interaktionell anwenden
• Es wurde ein Antrag auf Drittmittel zur (Fort-)Entwicklung der Methode bei der Heigl-Stiftung gestellt. Die Denkzeit-Gesellschaft wird (in Kooperation mit der IPU) die Methode evaluieren und die Ergebnisse der Fachöffentlichkeit zugänglich machen (in Kooperation mit der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsgruppe).